Es gibt einen Ort, an dem Probleme knapp formuliert auf den Punkt gebracht werden. An diesem Ort sind Ärzte, Bauarbeiter, Manager und Studenten gleichgestellt. Jener Ort, der Gleichstellung meist nur in den eigenen Reihen lebt, steht auf der Kippe: Er ist vom Aussterben bedroht.
Stammtische gehören zur deutschen Kultur, wie das Reinheitsgebot der Bierbrauer oder Helene Fischers ausverkaufte Stadiontour. Doch das einstige Konstrukt des klassischen Meinungsaustausch muss sich der Frage stellen, ob er noch zeitgemäß oder schon antiquiert ist. Zur musikalischen Untermalung dieser Diskussion gibt es am Ende die passende Stammtischmusik.
Jeder darf sein wie er will
Grundsätzlich ist das Konzept des Stammtisches ein löbliches und in der Historie fest geprägtes Konzept. Schon die Wikinger und Germanen hielten regelmäßige Sitzungen ab, die ihre Kultur untermauerten und die nach demokratischen Regeln abliefen. Jeder hatte eine Stimme, die gehört wurde. Einen Unterschied zwischen Fußvolk und Anführer gab es nicht.
Jeder Stammtischler wurde mit seinen Ideen und Meinungen aufgenommen. So ist es auch noch heute. Das Problem ist nur: Wer nicht bei der Gründung des Stammtisches dabei war, wird es schwer haben den erlauchten Kreis zu bereichern. Denn so offen sich Stammtische geben, so eigen sind ihre Regeln, die sie am Leben erhalten.
?tagged=stammtisch
Ein geschützter Rahmen
Während die Welt sich verändert und die Grauzonen gesellschaftlicher Probleme immer breiter werden, formulieren sich in den rustikalen Schänken der Großstädte beständige Schwarz/Weiß-Bilder an den Massivholztischen. Das muss nicht zwangsläufig eine negative Ansicht sein, die vertreten wird, aber es gibt eine klare Haltung.
„Die Politiker sind schuld!“, „Früher war mehr Arbeit da!“ oder „Technik ist Männersache.“ gehören zu den beliebtesten Themen im selbstgewählten Schutzraum. Was draußen passiert, wird auf den kleinsten Nenner runtergebrochen. Sicherlich eine Art dem Weltgeschehen entgegen zu treten, doch das angestaubte Flair der Gepflogenheiten wirkt heute etwas veraltet.
?tagged=stammtisch
Traditionen verblassen langsam
Das Problem ist: Der Stammtisch gehört genau in jene Zeit, in der sich Themen einfach durch eine Ein-Satz-Zusammenfassung lösen ließen. Eine Ära, die unweigerlich vorbei ist. Vielfältiger, breiter und globaler sind Themen geworden, die sich nicht bei drei Bier und fünf Korn lösen lassen – selbst, wenn am eigenen Stammtisch ein bunter Querschnitt verschiedener Gehaltsklassen sitzt.
Das Eiland der Inneren Sicherheit ernährt sich nur noch aus bestehenden Mitgliedern heraus. Neuzugänge gibt es kaum und in den Kneipenkulturen der Metropolen ist eine Manifestierung der Stammtische kaum noch denkbar. So bleiben die noch verbliebenen Runden unter sich. Eine Bestand, der kaum eine Zukunft hat.
Digitaler Stammtisch 2.0
Zwar mag der alte Holztisch schon bald der Vergangenheit angehören, doch sein Vermächtnis wurde schon lange digitalisiert. Foren, Communities oder Gruppen in sozialen Netzwerken funktionieren größtenteils nach gleichen Prinzipien – wer du bist, ist für den Anfang egal. Hauptsache, du hast etwas zu sagen.
Glücklicherweise darf im Netz globaler und differenzierter gesprochen werden (bleiben wir bei den positiven Beispielen!). Neue Blickwinkel und Denkansätze werden von vielen Seiten beleuchtet und entfalten eine Dimension, die an Stammtischen kaum Platz gehabt hätte. Schon allein die Anzahl der Teilnehmer hätte jede Wirtsstube zum Bersten gebracht.
Der Meinungsaustausch hat einfach eine neue Plattform erhalten, den die kommenden Generationen lieber per Handy pflegen als in der Gaststube. Der Stammtisch an sich wird auf kurz oder lang in einen friedlichen Schlaf fallen. Damit das Retro-Gefühl vor dem eigenen Computer aber wenigstens erhalten bleibt, untermale deine nächste Diskussion in der Community einfach mit dem Soundtrack einer Tradition.
https://www.youtube.com/watch?v=Yg8or8SdGbA